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Gastgeber DE

 
 

die gastgeber

Markus Pescoller und Gertrud Niedermair führen seit mehr als zwei Jahrzehnten den Restaurierungsbetrieb Pescoller Werkstätten in Bruneck (Südtirol). Im Wohnzimmer des cedä m erzählen sie vom respektvollen Umgang mit Geschichte, von den Herausforderungen des Umbaus und vom Eintauchen in eine Welt abseits der Massen.

 

im Gespräch

WAS IST DIE IDEE DES CEDÄ M?

_Gertrud: cedä m bietet eine Möglichkeit in eine fremde Lebenswelt einzutauchen, die man hier nicht unbedingt erwarten würde.
_Markus: Das Haus steht hier nicht solitär, es ist einerseits Teil der Geschichte Dosoledos; andererseits ist es auch heute noch Teil des sozialen Lebens des Dorfes. Gerade in Kontrast zu anderen Restaurierungsprojekten, die wir betreut haben, fällt mir immer wieder auf, dass für die Einheimischen das „patrimonio“ einen hohen Stellenwert hat. Selbst ein so einfaches Haus wie dieses soll erhalten bleiben. Das ist allen wichtig.

Was bedeutet „patrimonio“?

_G: Patrimonio ist das, was dir überlassen wird. Von deinen Vorfahren bekommst du den Patrimonio weiterzumachen. Das kann immateriell oder materiell sein.

WORAUF HABT IHR BEI DER EINTEILUNG DES HAUSES WERT GELEGT?

_M: Uns war ganz wichtig, dass es große öffentliche Bereiche gibt. Das ist ein Luxus, da man sich nicht nur in den Zimmern aufhalten kann. Zugleich wird das Haus ein belebter Ort der Begegnung. Aber auch in den öffentlichen Bereichen gibt es noch Rückzugsorte.

WAS IHR ÜBER DAS HAUS SAGT, GILT AUCH FÜR DEN GANZEN ORT DOSOLEDO. MAN KANN SICH IN DER NATUR ZURÜCKZIEHEN ODER MENSCHEN BEGEGNEN – JE NACH STIMMUNG. WARUM FUNKTIONIERT DAS HIER BESSER ALS ANDERSWO?

_G: Die Leute hier erkennen zwar, dass du ein Tourist bist. Aber du bist noch einzeln, du wirst noch als Mensch wahrgenommen – nicht als Teil einer Masse.
_M: So soll auch unser Haus funktionieren. Es soll nicht eine fremde Struktur sein, die überall stehen könnte. Es soll eingebettet sein: Man isst in den Gasthäusern, kauft Lebensmittel im Supermarkt, geht in die Bäckerei im Ort. 

WAS WAR BEIM UMBAU IM FOKUS? WELCHE MATERIALIEN HABT IHR VERWENDET?

_M: Das ursprüngliche Konzept war ein „minimo intervento“. Am liebsten hätte ich alles nur gereinigt und die Möbel hineingestellt, fertig. Das geht natürlich nicht. Wir mussten das Haus dämmen, energetisch und akustisch, und erdbebensicher machen. Deswegen war eine Reihe von Eingriffen notwendig. Wir haben uns genau überlegt, wie wir diese Eingriffe gestalten. Meistens haben wir Holz verwendet: Altholz für die Arbeiten an der Struktur, neues Holz für die Täfelung und für die Fenster. Das neue Holz ist aber ausschließlich Sturmholz vom Sturm Vaia. 
_G: Der Sturm Vaia hat im Tal enorme Verwüstungen angerichtet, ähnlich wie in Südtirol. Im Val Disdende wurde ein gesamter Wald umgeknickt wie Streichhölzer.
_M: Abgesehen von der Einrichtung haben wir zwei Holzarten verwendet. Das meiste ist Fichte. Die neuen Stuben sind aus Lärche, weil für den Blockbau traditionell Lärchenholz verwendet wurde. Das Dach wurde mit Blech eingedeckt, seit den 1870er Jahren eine typische Brandschutzmaßnahme für den Ort. Man soll den Regen hören, wenn auch nicht zu laut. Für mich war auch ganz wichtig, dass die Welligkeit des Dachs erhalten blieb.
_G: Die Bahnen des Blechdachs sind unterschiedlich breit. Man sieht, dass das Dach ein Stück Handwerk ist und kein Industrieelement.

WAS WAR DIE GRÖSSTE HERAUSFORDERUNG?

_G: Es war ein Spagat zwischen dem Anspruch, einen heimeligen Unterschlupf zu schaffen und gleichzeitig das Ambiente so zu belassen, dass es eine gewisse Ursprünglichkeit ausstrahlt. Jetzt kann man natürlich sagen: Dieses Haus war nie so geheizt, hier war es immer kalt, deshalb ist das ein Fake. Aber wenn so etwas funktionieren soll, muss man auch Kompromisse eingehen.
_M: Rückseitig war ja eine Tenne, hier wurde Heu gelagert.
_G: Die Tenne so zu adaptieren, dass sie bewohnbar wird, aber gleichzeitig als Tenne erkennbar bleibt. Für die Absturzsicherung neben der Treppe haben wir diese alten Hasengitter verwendet. Es schaut heute so logisch aus, als wäre es immer so gewesen.

WO HABT IHR DAS GITTER HER?

_M: Vom Nachbar. Eigentlich ist es ein wunderschönes, historisches Handwerksprodukt. Jede einzelne Kreuzungsstelle ist verschweißt. Ich würde schätzen, es stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert.
_G: Ein anderes Detail: Wir haben lange überlegt, ob wir die Gitter vor den Fenstern im Erdgeschoss belassen oder abschneiden sollen, ob sie einen Gast von heute stören oder nicht. Wir haben die geschmiedeten Stangen dann für die Brüstung an der Nordseite wiederverwendet. Es sind ganz viele kleinteilige Entscheidungen, die am Schluss zu diesem Ergebnis führen.

Ein ganz schöner Aufwand also, damit am Ende ein solches Ergebnis herauskommt …

_M: Ich habe immer zu den beteiligten Firmen gesagt: Das hier ist alles ein Michelangelo – so behandeln wir das Gebäude.

Wie seid ihr auf Dosoledo gekommen?

_M: Wir hatten im Comelico einige Restaurierungsprojekte. Ich kannte das Tal also schon und wusste auch, dass es hier noch solche Möglichkeiten gibt. 
Ich hatte am Anfang eher an ein einzeln stehendes Haus irgendwo in der Höhe gedacht. Rückblickend würde ich genau das Gegenteil sagen. (lacht) 
Vielleicht ist dieses Haus nicht die ideale Struktur – aber nahe dran. Es war vor allem die absolut richtige Entscheidung, im Dorf zu bleiben. Irgendwo außerhalb hätte die soziale Einbindung des Gastes in das Dorf gefehlt.

WENN MAN VOR DIE TÜR TRITT, STEHT MAN MITTEN IM DORF. MAN FÄHRT NICHT HIERHER, UM ETWAS ANZUSCHAUEN, SONDERN WIRD TEIL DES ALLTAGS.

_M: Genau, das ist das Ziel. Das hier ist auch eine Art Pilotprojekt, das den Leuten zeigen soll: Man kann ein Haus wie dieses auch luxuriös  ausstatten, ohne die Struktur oder das „patrimonio“ zu zerstören.

DIE HISTORISCHE „REGOLA“ VON DOSOLEDO ALS EINE ART GEMEINWOHLÖKONOMIE IST EIN FASZINIERENDES KONZEPT. WAS HAT ES DAMIT AUF SICH?

_M: Die Regola ist eigentlich eine basisdemokratische Gemeinwohlökonomie. Die Regole im Comelico sind im 12. Jahrhundert entstanden und haben bis heute Bestand. Es gibt fünf Gemeinden, aber 16 Regole im Tal. Sie sind eigentlich das politisch mächtige Organ, besitzen Wald, Almen und Wiesen, die sie pflegen und verwalten.
Die Regole haben Grundstücke und auch das Holz aus dem Wald den Familien zugeteilt. Arme Familien haben so ein Stück Land bekommen, das sie bewirtschaften konnten.

DAHER LEITET SICH AUCH DAS ZEICHEN EURES HAUSES AB, RICHTIG?

_M: Genau. Jede Familie hatte ein Zeichen, mit dem unter anderem das Holz gekennzeichnet wurde. Diese Zeichen stiften auch Identität, ähnlich wie ein Wappen für den Adel.

WOFÜR STEHT DIE EINFACHHEIT, DIE IHR HIER WIEDER AUFLEBEN LASST? WELCHER WERT STEHT FÜR EUCH DAHINTER?

_G: Für mich ist es ein großer Respekt vor der Vergangenheit. Die Menschen haben sich damals enorm bemüht, dieses Haus zu bauen. Wenn ich das mit dem Bagger abreißen und ein neues Haus errichten würde, fände ich das respektlos allen gegenüber, die davor gewesen sind. Man schätzt auch mehr, was man hat, wenn man sieht, wie es hier einmal war. Die Einfachheit und Armut soll in Erinnerung bleiben.
_M: Es gibt mehrere Signaturen im Haus, die darauf hinweisen, wie es früher war, z. B. bestimmte Wände. Doch wenn man ehrlich ist, dann ist das Haus heute dennoch eine „Luxusmaschine“. Es gibt Strom und elektrisches Licht, die Installationen, die Heizung. Wir sitzen hier auf bequemen Sofas in einem akustisch und energetisch gedämmten Haus.
Ist es also noch authentisch? Authentizität ist ein komplexer Begriff, der in der Denkmalpflege häufig auf Material und Form reduziert ist, die erhalten bleiben sollen. Aber Authentizität ist auch Inhalt und vor allem Funktion, Sozialgeschichte. Wenn wir dieses Haus wirklich authentisch erhalten hätten wollen, hätten wir die Kälte mitdokumentieren müssen, den Geruch des Stalls, das Heu in der Tenne. Das wäre aber nicht möglich gewesen, allein schon wegen der massiven Umbauten von 1980. Geblieben ist uns also ein kleiner Erinnerungsrest, der sich an diesen Signaturen, an diesen Markierungen festmacht.

AUCH EURE MÖBEL SIND AUSSERGEWÖHNLICH UND NICHT AUS DEM KATALOG. WOHER KOMMEN SIE?

_M: Die Möbel stammen zu einem größeren Teil von Sozialgenossenschaften, zum Beispiel vom Ho&Ruck in Innsbruck. Dort können Leute ihre Möbel abgeben, die sie nicht mehr brauchen. Die Sozialstruktur wird über den Verkauf dieser Dinge finanziert und integriert marginalisierte Personen wie Flüchtlinge, Langzeitarbeitslose usw.
_G: Einige Möbel sind von der Sozialgenossenschaft Di Mano in Mano, die ein ähnliches Konzept verfolgt. Ein Teil stammt auch aus dem Haus selbst. Und einige alte Stücke kommen aus bäuerlichen Umgebungen in Südtirol und im Comelico. 

ALSO BESCHRÄNKT SICH DAS KONZEPT DER WIEDERVERWERTUNG NICHT NUR AUF DAS HAUS, SONDERN GILT AUCH FÜR DIE EINRICHTUNG.

_G: Wir haben das versucht, soweit es eben möglich war. Es gibt natürlich auch ästhetische Ansprüche. Die Gäste sollen sich ja auch wohl fühlen. Klar kommt man schon auch in Versuchung, in einem Geschäft ein neues Möbelstück zu kaufen. Aber ich hatte wirklich Sorge, dass uns ein neues Design die Atmosphäre zerstört. Auch bei den Betten haben wir lang überlegt. Wir haben dann von einem Tischler ein Bett adaptieren lassen, das möglichst reduziert und einfach ist. Als Nachtkästchen haben wir uns für ganz einfache Hocker entschieden, die auch als Beistelltisch funktionieren und im Haus an vielen Orten wieder auftauchen.

Wie schaut für euch der ideale Gast aus? 

_G: Er muss Lust haben, irgendwo zu sein, wo es keine Massen gibt. Er muss Lust haben auf etwas, das nicht „clean“ ist. Affinität zur Architektur ist sicher gut – ein bestimmtes Interesse dafür. Der ideale Gast sollte auch Ruhe mögen und allein sein können – und gleichzeitig offen genug sein, auf neue Menschen zuzugehen.
_M: Ganz wichtig finde ich, dass es jemand ist, der sich einfügen kann in das, was ist. Sonst kann er das, was er hier vorfindet, gar nicht genießen. Jemand, der sagt: Ich bin ein Gast und die Welt hier ist, wie sie ist, und ich füge mich in diese Welt ein. Es ist eine Umkehrung der Perspektiven.
Das gilt auch für den sozialen Raum. Das Dorf ist, wie es ist, die Bar ist, wie sie ist – und ich muss die Fähigkeit besitzen, darin den Reichtum zu entdecken. Nicht ich bin das Maß, sondern die Welt ist das Maß – und ich werde Teil dieser Welt.